100 Jahre Hamburger VHS

Sie haben einmal gesagt, Volkshochschulen werden zunehmend „marginalisiert“. Wie meinen Sie das? Diese Aussage muss man historisch sehen. Volkshochschulen sind aus den Ideen für ein Erweiterungsprogramm der Universitäten ent- standen. Viele Menschen wurden vorher gar nicht mit Bildung konfrontiert. Der Ansatz zur Gründung war: Wissen auf der Höhe der Zeit wie auch Demokratie ist ohne Bildung nicht zu vermitteln. Etwa 40 Jahre später, in den Sech- zigerjahren, gab es innerhalb der Arbeiterschaft eine hohe Bildungsaspiration, „Aufstieg durch Bildung“. Durchaus mit Erfolg. Aber jetzt haben wir einen großen Teil in der eher bildungsfernen Bevölkerung, die diese Hoffnung verloren zu haben scheint und die in punkto Lernen nicht mehr mitgenommen wird. Heute kommen eher Menschen aus dem bildungsbürgerlichen Milieu in die Volkshochschulen. Deshalb ist meiner Ansicht nach die Wahrnehmung der Volkshoch- schulen als bedeutsamer Bildungsträger stark zurückgegangen. Warum haben diese Menschen das Interesse an Bildung verloren? Zunächst möchte ich betonen – die Volkshoch- schulen haben dieses Problem nicht erzeugt, die Ursache liegt woanders. Es ist die Lernmotivation, die über die Zeit verloren geht. Bei Grundschü- lern haben noch rund 50 Prozent eine hohe Lern- motivation, bei den 14-Jährigen sind es nur noch ca. 6 Prozent. Wie könnte die Lernmotivation gesteigert werden? Die Befähigung zur Lernmotivation sollte bereits in der Schule als Metakompetenz erlangt wer- den. Dazu gehört auch, selbst reguliert lernen zu können, das heißt, an einer Sache dran zu bleiben, die vielleicht Mühe macht. Dafür ist es notwendig, neue Lernwege anzubieten. Was meinen Sie mit neuen Lernwegen? Die Bildungsinstitutionen müssen schauen, wo wird eigentlich gelernt, wo gelingt etwas, was wir so noch nicht wahrgenommen haben. Es geht um den erfolgreichen Lernpfad des Einzelnen. Eine Institution wie die Volkshochschule denkt sich, was ist unser Auftrag, was ist unsere Funktion? Sie sollte anders fragen: Was können wir beitragen zu einer guten Lernbiografie und damit einem guten Leben? Denken Sie vom Individuum her, nicht von der Einrichtung, denken Sie nicht in Kursen und nicht in Gebäuden! Welche Rolle sehen Sie für die Volkshochschule zur Unterstützung der individuellen Lernbiografien? Ganz wichtig für den Erfolg des individuellen Lernens wird eine Bildungsbiografieberatung bzw. ein Tutoren- oder Coaching-System sein. Entwe- der einzeln oder in kleinen Gruppen bis maximal zehn Leute. Denn in vielen Fällen, besonders in bildungsfernen Milieus, bedarf es der Motivation. Diese Beratung sowie ihre Umsetzung in erfolg- reiches Lernen gelingt nur in Verbünden. Es gilt, kommunale bzw. regionale Bildungslandschaften aufzubauen. Was verstehen Sie unter Bildungs- landschaften? Viel stärker in Verbünden arbeiten und sich nicht als Konkurrenz begreifen – man braucht die Ko- operation zwischen den verschiedenen Wie wird sich analoge und digitale Bildung und vor allem Erwachsenen- bildung entwickeln? Wird es in zwanzig Jahren noch Volkshoch- schulen geben? Zukunfts- und Bildungsforscher Gerhard de Haan wagt einen möglichen Ausblick. DENKEN! | INTERVIEW 63 100 JAHRE HAMBURGER VOLKSHOCHSCHULE |

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